Ich wünschte, ich könnte dich hassen - Die Geschichte einer Entführung

"Was willst du?", fragte ich mit brüchiger Stimme. "Ganz einfach." Mit der Zigarette im Mund lächeltest du. "Nicht allein sein."

In "Ich wünschte, ich könnte dich hassen" schreibt Gemma rückblickend die Geschichte ihrer Entführung auf. Wie sie von Ty, dem jungen Mann mit den schönen, durchdringend blauen Augen betäubt und vom Flughafen entführt wird und wie er sie in die Wüste Australiens verschleppt. Schon der erste Fluchtversuch zeigt ihr, wie sinnlos der Gedanke an ein Entkommen ist: rings um das kleine Holzhäuschen, in dem Ty sich mit ihr versteckt, gibt es kilometerweit nur Staub, Geröll und vertrocknete Pflanzen, eine unendlich erscheinende Wüstenebene. Ihre anfänglichen Sorgen, er wolle ihr etwas antun, verschwinden nie so ganz, selbst als Ty ihr immer wieder versichert, dass er ihr nichts tun wird. Denn wieso hält er sie dann in der Wüste fest? In der Einsamkeit des Outbacks bleibt Gemma nichts anderes übrig, als sich mit ihrem Entführer zu arrangieren und sie muss feststellen, dass sich nach und nach noch andere Gefühle außer Angst und Hass für Ty in ihr Bewusstsein schleichen. Dabei müsste sie ihn doch eigentlich hassen...


Stockholm-Syndrom nennt man es, wenn ein Opfer mit der Zeit positive Gefühle für seinen Entführer entwickelt. Um so einen Fall scheint es sich auf den ersten Blick bei Gemma zu handeln. Denn natürlich weiß sie, dass das, was Ty mit ihr gemacht hat, falsch war, trotzdem kann sie ihn nicht hassen, denn nach und nach lernt sie den Menschen hinter der Fassade des Entführers und seine traurige Geschichte kennen:

"Bis zu dem Moment warst du für mich einfach nur der Entführer. Du hattest keinen Grund für das, was du machtest. Du warst dumm, böse und geisteskrank, fertig. Doch als du zu reden begannst, fingst du an, dich zu verändern." 

Ty hat sich bewusst für das abgeschiedene Leben in der australischen Wüste entschieden, nachdem ihn erst seine Mutter und dann auch sein Vater im Stich gelassen haben. Seit frühester Kindheit versorgt er sich selbst und die Wüste ist sein Zuhause. Dieses neue Heim will er auch Gemma näherbringen und mit der Zeit lässt er sie immer mehr an ihrem alten Leben zweifeln. War sie wirklich so glücklich in London, wie sie es Ty weismachen will?

Für ein Jugendbuch ist die Geschichte wirklich "harter Stoff" und aufgrund der Thematik würde ich dieses Buch erst ab einem Alter von 14 Jahren empfehlen, denn besonders am Anfang drehen sich Gemmas Gedanken immer wieder um ihre Ängste, von Ty vergewaltigt, gefoltert oder ermordet zu werden, auch wenn er ihr ständig versichert, ihr nichts antun zu wollen. Trotz der erwachsenen Thematik ist das Buch jugendgerecht verpackt, sexuelle Übergriffe oder Gewaltakte finden hier nicht statt. Trotzdem geht einem das Buch an die Nieren, denn die Geschichte ist sehr eindringlich und verstörend geschrieben, Gemmas Reaktionen und Gefühle erschienen mir absolut verständlich und nachvollziehbar. Wieviel von ihren Gefühlen letztlich der Extremsituation geschuldet sind und was echt ist, bleibt offen. Und gerade das gibt der Beziehung der beiden eine noch melancholischere Note.

Genau wie Gemma war auch ich beim Lesen hinsichtlich meiner Gefühle für Ty hin- und hergerissen. Einerseits ist es absolut falsch, dass er sie gegen ihren Willen festhält, andererseits entwickelt man als Leser Sympathie für diesen jungen Mann, der für sich und Gemma einfach den falschen Weg gewählt hat. Unter anderen Umständen wären sie vielleicht ein glückliches Liebespaar geworden, doch Ty entschied sich stattdessen für die Entführung. Über seine Motive möchte ich an dieser Stelle gar nicht zu viel verraten, denn natürlich ist das das große Geheimnis, dem Gemma nach und nach auf die Schliche kommt. 

Das Buch ist aus der Ich-Perspektive geschrieben und wirkt gerade deshalb absolut authentisch und hautnah, als wäre ich live dabei, wie Gemma der rote Staub der Wüste auf den Lippen kratzt und der heiße Wind über ihre Haut weht. 
Die Autorin schreckt nicht davor zurück, ein für Jugendbücher eher unbequemes, unübliches Ende zu schreiben, für welches ich aber sehr dankbar bin, denn alles andere wäre mir unrealistisch erschienen. So bleibt bei mir der Eindruck einer sehr eindringlichen, mitreißenden Geschichte über zwei junge Menschen, die nach Verbundenheit suchen, Verbundenheit zu einem anderen Menschen, aber auch zu dem Land und der Natur, die ihnen den Trost bietet, den kein Mensch geben kann.

Authentisch, beklemmend und absolut fesselnd: die Geschichte einer Entführung - und einer ungewöhnlichen Liebe. Unbedingt lesen!


Ich wünschte, ich könnte dich hassen - Lucy Christopher
Taschenbuch: 368 Seiten
Verlag: Carlsen Verlag GmbH; Auflage: 1 (Februar 2011)
ISBN-10: 3551520089

Preis: 14,95 Euro

Willis Fazit:






6 Kommentare:

  1. Hach, das hört sich ja spannend und interessant an. ... Noch ein Buch mehr, was ich unbedingt mal lesen muss. ^__^
    LG Tenshi

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  2. hachh das buch ist der hammer XD ich hab es verschlungen!! ^^

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  3. Und noch so ein Buch, was ich dringend lesen möchte. Vor allem, weil man so viel gutes hört.

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  4. Hallo Friedelchen!
    Hätte ich deine Rezension nicht gelesen, dann würde ich dieses Buch wegen des Covers ausblenden. Ich würde diesen Schmöker einfach übersehen. Glaub mir, jetzt halte ich meine Adleraugen auf. Man merkt wie viel Herzblut in deiner Rezension steckt und mir gefällt, wie du die Dinge ausdrückst.
    Werde schnell wieder gesund. :)

    Liebe Grüße, Tanja

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  5. Hört sich wirklich gut an. Ich glaub das wär auch was für mich! :o)

    Liebe Grüße,
    - Marie

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  6. Danke für diese grandiose Rezension, das Buch kommt sofort auf meine Wunschliste :)

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