Die dystopischen Zwölf #2 - Oryx und Crake

"Wo ich jetzt liege, hat mal ein Toter geschlafen, denkt er. Er wusste nicht, was auf ihn zukommt. Er hatte keine Ahnung. Anders als Jimmy, der Anhaltspunkte hatte, der es hätte kommen sehen können, aber nicht sah. Wenn ich Crake eher umgebracht hätte, denkt Schneemensch, hätte das etwas ausgemacht?"

In einem entvölkerten, von Klimakatastrophen und Seuchen heimgesuchten Amerika lebt Schneemensch, scheinbar der einzige   Überlebende seiner Art. Um sich vor wilden Tieren zu schützen, schläft er in einem Baum, Nahrung holt er sich aus den längst verfallenen Ruinen der Zivilisation und tagsüber versteckt er sich vor den quälend heißen Strahlen der Sonne. Gesellschaft leisten ihm nur Crakes Kinder mit ihren leuchtend grünen Augen, die ihm unaufhörlich Fragen über ihren Schöpfer stellen. Doch die Wahrheit kann er ihnen nicht erzählen. Nichts von den Zeiten, als Schneemensch noch Jimmy hieß und Crake sein bester Freund Glenn war. Bevor Crakes Experimente zunehmend außer Kontrolle gerieten...



Margaret Atwood konnte mich vor einigen Jahren bereits mit "Der Report der Magd" überwältigen, welches in einem christlich fundamentalistisch beherrschten Amerika der Zukunft spielte. Mit "Oryx und Crake" beweist sie erneut ihr Talent für erschreckende Zukunftsvisionen unserer Welt, die gar nicht so abwegig erscheinen, wie man auf den ersten Blick denken mag. Hier hat der Mensch die Natur vollkommen unterjocht, jedes beliebige Lebewesen, ob Tier oder Pflanze, kann manipuliert und optimiert werden. Organschweine produzieren 12 Nieren gleichzeitig, alte faltige Haut wird einfach durch frische neue ersetzt und auch die Unsterblichkeitspille scheint nicht mehr fern zu sein.

Die Geschichte von Schneemensch, Oryx und Crake beginnt im Danach, nach der Katastrophe, die die Menschen selbst herbeigeführt haben. Rückblickend schildert Schneemensch, früher Jimmy genannt, wie das alles passiert ist und was sein Freund Crake damit zu tun hatte. Crake, der schon immer hochintelligent, doch gefühlskalt war und der die Genetik als eine Art faszinierenden Spielplatz für Wissenschaftler betrachtete. Und er erzählt von seiner Liebe zu Oryx, einer mysteriösen Frau, welche er als Achtjährige auf einer Kinderpornografie-Seite gesehen hat und die ihn seitdem nicht mehr losgelassen hat.

Es ist eine erschreckend kalte Gesellschaft, in der Jimmy aufwächst. Zwar leben die Menschen in einer hochtechnologisierten Welt, in der der Wissenschaft scheinbar keine Grenzen gesetzt sind; damit einher geht jedoch ein moralisches Abstumpfen. Gewalt ist scheinbar normal und Selbstmorde und Hinrichtungen werden im Internet übertragen und avancieren zum beliebten Zeitvertreib. Die gebildeten, reichen Bürger verschanzen sich in abgeriegelten Komplexen, während die restliche Bevölkerung im verwilderten, rohen Plebsland haust, voller Gewalt, Krankheit und Armut. Terroranschläge sind fast an der Tagesordnung - ständig versuchen Widerständler, die Forschungsarbeiten in den Komplexen zu sabotieren, was nicht selten mit dem Ausbruch von gefährlichen Erregern endet.

Atwood hat ihre ganz eigene Art zu erzählen. Sie lässt sich viel Zeit, legt Wert auf Details, die anfangs banal erscheinen, deren Bedeutung man jedoch erst zum Ende hin tatsächlich erkennt.  Obwohl mich die Geschichte und die Komplexität der Erzählung sehr faszinieren konnte, hat das Buch aber leider auch seine Längen. Besonders die Passagen, die von Oryx Kindheit handelten, fand ich etwas langgezogen und rückblickend betrachtet nicht so relevant. Oryx Vergangenheit hat jedenfalls keine größere Bedeutung für den Verlauf der Geschichte. Sie beeinflusst Jimmy lediglich in seiner Liebe zu ihr, insofern, dass er für sie Rache nehmen will an dem Unrecht, dass ihr als Kind angetan wurde.

Trotz seiner Längen ist "Oryx und Crake" jedoch ein spannender, bis ins kleinste durchdachter Entwurf einer möglichen Zukunft, der eine eindeutige mahnende Botschaft enthält: Wie weit sollte man in der Genforschung gehen? Wann ist der Punkt erreicht, an dem man mit seinen moralischen Grundsätzen endgültig bricht? 
  
P.S: Mit "Das Jahr der Flut" erschien 2009 ein Roman, der in derselben Welt angesiedelt ist und vielleicht noch etwas mehr Einblick in das Schicksal der Menschen und in Schneemenschs Verbleib gibt. Ich werde es mir jedenfalls nicht entgehen lassen :-)

Oryx und Crake - Margaret Atwood
Taschenbuch: 380 Seiten
Verlag: Bt Bloomsbury Taschenbuch Verlag; Auflage: 1., Aufl. (1. März 2005)
ISBN-10: 3833301392

Preis: 10,95 Euro

Willis Fazit:




2 Kommentare:

  1. Danke für die tolle Rezi, das Buch steht schon ewig auf meiner Wunschliste, jetzt wird es doch mal etwas weiter nach oben wandern.

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  2. "A handmaids tale" haben wir in der Schule im Englisch LK gelesen, ich hab das auch geliebt! Hast du zufällig von ihr schon "The robber bride" gelesen? (kenne den deutschen Titel nicht). Hab das vor Monaten im Second Hand schop gekauft und seitdem stehts im Regal..

    ps: sind die Captcha in der Kommentarfunktion Absicht? Die sind sauschwer zu lesen.

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